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Title
Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft. DOMiD – Ein Verein schreibt Geschichte(n)


Author(s)
Gogos, Manuel
Extent
272 S., zahlr. Abb.
Price
€ 40,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Andreas Ludwig, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Jahrzehntelang tat sich die Bundesrepublik schwer, sich als Einwanderungsland zu verstehen, genauer: Einwanderung als permanent und die (west-)deutsche Gesellschaft als durch Migration mitgeprägte zu akzeptieren. In diesen Prozess ebenso zögerlicher wie verzögerter Annäherung an die Realität passt sich das Bemühen um ein Migrationsmuseum ein, das unter dem Titel „Haus der Einwanderungsgesellschaft“ 2027 in Köln eröffnen soll.1 Den Weg zu diesem Ziel beschreibt der Literaturwissenschaftler, Autor und Kurator Manuel Gogos in seiner Geschichte des Vereins „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ (DOMiD), der das Projekt seit 1990 vorangetrieben hat und den heutigen Namen seit 2007 führt.

Die Initiative wurde von wenigen politischen Immigranten aus der Türkei gestartet, die vor der politischen Repression, insbesondere unter der Militärdiktatur nach 1980, in die Bundesrepublik geflohen waren. Hier trafen sie auf eine von den sogenannten Gastarbeitern getragene Vereinskultur, die sowohl die Arbeitswelt als auch Freizeit und Kultur adressierte. Das gemeinsame Interesse bestand in der Dokumentation der Lebensverhältnisse und Erfahrungen türkischer „Gastarbeiter“, die seit dem Anwerbeabkommen von 1961 nach Westdeutschland gekommen waren, und deren Vermittlung in die allgemeine bundesdeutsche Öffentlichkeit. 1990 kam es daraufhin zur Gründung des Vereins „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei“ (DoMiT), in dem sich mehrere Initiativen zusammenfanden. Das nun entstehende Archiv für türkische „Gastarbeiter“ hatte von Anfang an auch einen museumsorientierten Ansatz, indem einerseits neben Schriftgut zugleich Objekte der materiellen Kultur gesammelt wurden, andererseits das Ziel einer Museumsgründung als dezidierter Öffentlichkeitsbezug kontinuierlich verfolgt wurde. Nach einer ersten Ausstellung in Kooperation mit dem Ruhrlandmuseum (heute Ruhr Museum) 1998 wurde die Sammlungsaktivität von den Selbstzeugnissen der ersten „Gastarbeiter“-Generation auf, wie es heißt, „deutsche Quellen“ (S. 91) erweitert. So vergrößerte sich der gesellschaftliche und politische Rahmen der Dokumentation erheblich. Zusätzliche Erweiterungen folgten durch die Einbeziehung der zweiten Generation türkischer Arbeitsmigrantenfamilien, die Einbeziehung weiterer Migrantengruppen sowie schließlich die Adaption eines postmigrantischen Konzepts. Die Umbenennung des Vereins in „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ 2007 war symbolischer Verweis auf dieses breitere Interessen- und Aufmerksamkeitsspektrum, das auch durch eine Reihe staatlich geförderter Ausstellungsprojekte Teil des öffentlichen Diskurses über Migration wurde.

Diese Entwicklungsgeschichte erwies sich institutionell und finanziell indes als steiniger Weg, als „Operation im Prekären“ (S. 16), die wesentlich von der zunächst fehlenden, später politisch gestützten Akzeptanz Deutschlands als Einwanderungsland abhing, wie Gogos in seiner Darstellung immer wieder hervorhebt. Infrastrukturelle wie auch projektbezogene Unterstützungen, ab 2009 schließlich eine institutionelle Förderung ermöglichten die Weiterentwicklung des migrantischen Archivs und steigerten die öffentliche Aufmerksamkeit. Damit wird ein wesentlicher Punkt angesprochen: die Implementierung zivilgesellschaftlich angestoßener Fragen durch – häufig unentgeltliche − Projektarbeit, deren prekäre Finanzierung und unsichere Zukunftsperspektive, die die Aktiven jahre- oder jahrzehntelang über Gebühr beansprucht. Was hier am letztlich erfolgreichen Beispiel von DoMiT/DOMiD exemplarisch dargestellt wird, betrifft ebenso zahllose andere Initiativen, sodass sich die Frage nach der zeitlichen und politischen Inkongruenz, nach ihren persönlichen und gesellschaftlichen Kosten und ihrer politischen Wirkung stellt. Am Beispiel der Migration und ihrer öffentlichen Repräsentation lässt sich dies in der Bundesrepublik ebenso konstatieren wie in anderen Ländern. Während hierzulande allerdings das Migrationsmuseum am Ende einer zivilgesellschaftlichen Organisation anvertraut wurde, übernahm etwa in Frankreich nach langen politischen Verwicklungen dies der Staat durch die Cité nationale de l’histoire de l’immigration als Teil seiner Staatsraison.2

In den mehr als 30 Jahren der Vereinstätigkeit von DoMiT/DOMiD hat sich der Fokus auf die Migrationsgruppen immer wieder verschoben. Stand anfangs eine erinnerungskulturelle Perspektive auf die erste türkische „Gastarbeiter“-Generation, ihre Lebensumstände in Deutschland sowie ihre fehlende Sichtbarkeit in der Gesamtgesellschaft im Vordergrund, so erweiterte sich das Interesse sukzessive auf Arbeitsmigranten aus anderen Ländern und schließlich auf Fluchtbewegungen jenseits der Arbeitsmigration. Von den Boatpeople um 1980 bis zu den Geflüchteten des Jahres 2015 wurde ein breites Spektrum der Fluchtbewegungen angesprochen und nicht zuletzt durch Forschungs- und Ausstellungsprojekte reflektiert. Dabei hat sich das Arbeitsprinzip der Vernetzung als durchgängig unabdingbar erwiesen, da aufgrund der Sammlungspraxis aus überwiegend privaten Quellen zunächst ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden musste. Das Ergebnis ist zum einen die lebensweltliche Konnotation des Archivs, zum anderen auch eine über die jeweiligen „Communities“ hinausreichende Expertise, die unter anderem zur Übernahme des Nachlasses von Rupert Neudeck (1939–2016) sowie von Beständen der deutschen Anwerbungsstelle in Istanbul und des Hauptdurchgangslagers für Geflüchtete in Nordrhein-Westfalen führte. Damit wurde aus dem Erinnerungsarchiv der „Gastarbeiter“ eine Dokumentation für alle Migrationsbewegungen in Deutschland nach 1945 (S. 189), wobei mit „Deutschland“ aus einer doch vorrangig westdeutschen Perspektive die alte und die erweiterte Bundesrepublik gemeint sind.

Was mit dem Versuch begonnen hatte, aus den „familialen Erinnerungsgemeinschaften“ (S. 174) der Arbeitsmigration auszubrechen, entwickelte sich zu einer institutionellen Zuständigkeit, in der Migration als „Held*innenreise“ (S. 161) interpretiert sowie das heutige und zukünftige Zusammenleben als Darstellungsfolie für das geplante Museum angekündigt wird (S. 252), was einen Paradigmenwechsel von der Vergangenheit zur Gegenwart suggeriert. Abzuwarten bleibt, ob es dabei zu widerstreitenden Erwartungen kommt – eines Beitrags zur Integration, wie es in der Debatte um die Förderung von DOMiD durch das Land Nordrhein-Westfalen noch formuliert wurde (S. 179), oder zu einer nüchternen Betrachtung der Realität in Deutschland, die Jagoda Marinić in ihrem Vorwort mit der Sentenz beschreibt, Deutschland sei womöglich „post-migrantisch“, „noch bevor es sich als migrantisch verstehen konnte“ (S. 8). Die multidirektionale Migration der Gegenwart wird dagegen nur kurz angesprochen, obwohl sie ein grundlegendes Problem der Darstellung von Migration im Museum zu sein scheint.3 Noch immer wird Migration vorwiegend als Immigration von einem Ursprungs- in ein Zielland betrachtet, obwohl aufgrund zunehmender Mobilität ein Hin und Her ebenso zunimmt wie die Bewegung zwischen immer neuen Zielländern – sofern die gesetzlichen Regelungen dies zulassen. Außerdem fehlen in dem Buch weitgehend Informationen, ob und im welchem Umfang Flucht- und Migrationsgründe dokumentiert werden. Auch die 1990 von Arbeitskräften zu Migrant:innen gewordenen Vertragsarbeiter:innen in der (ehemaligen) DDR hätten der Aufmerksamkeit bedurft. Die Frage der weiblichen (Arbeits-)Migration kommt in dem hier besprochenen Band ebenfalls nur ganz am Rande vor.

Gogos berichtet über die einzelnen Entwicklungsetappen des Projekts Migrationsmuseum zunächst in chronologischer Folge, wobei Ereignisdarstellungen, kommentiert durch Interviews mit den Beteiligten, und eingestreute grundsätzliche Reflexionen miteinander verflochten sind. Dieser Wechsel der Darstellungsebenen macht die Lektüre des Bandes etwas schwierig, zumal wesentliche Informationen nicht immer leicht auffindbar sind und oft erst nachholend berichtet werden, wie zum Beispiel die Datierung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens auf das Jahr 1961 (S. 50). Eine Zeitleiste hätte das Auffinden wesentlicher Entwicklungsdaten erleichtert. Auch die Verweise auf neuere Forschungsergebnisse finden sich eher versteckt in, leider auch schlecht lesbaren, Fußnoten wieder. Eine Bibliographie hätte die Übersicht erleichtert, auf welches Forschungsumfeld sich die Untersuchung bezieht. So bleibt, neben allen aufschlussreichen Informationen über die Entwicklung des Vereins zu einem maßgeblichen Akteur in der Migrationsgeschichte, eine Unklarheit, an wen sich der Band eigentlich richtet. Die detaillierte Rekonstruktion der Vereinsgeschichte deutet auf eine Tendenz zur Selbstvergewisserung; die Kontextualisierung in einen politischen Implementierungsprozess zielt hingegen auf eine Debatte über die Wirkungschancen zivilgesellschaftlicher Initiativen.

Nach der Lektüre bleiben zwei gleichsam museumszentrierte Eindrücke festzuhalten: Da sind zum einen die zahlreichen bemerkenswerten Objekte und Dokumente zur Migrationsgeschichte, die einen quellenorientierten Blick ermöglichen. Da ist zum anderen aber auch die Leerstelle der inhaltlichen Präsentation im künftigen Museum. Eine detailliertere Erläuterung des bereits vorhandenen Konzepts eines „Hauses der Einwanderungsgesellschaft“ jenseits allgemeiner Statements wie postmigrantisch, partizipativ, antirassistisch, Bühne und „Mischtyp“ (Michael Fehr 1987, zit. auf S. 267) hätte Material für eine Diskussion darüber geboten, wie wir uns ein Museum der Einwanderungsgesellschaft vorstellen – und was mit diesem „Wir“ genau gemeint sein kann.

Anmerkungen:
1 Siehe URL: <https://domid.org/haus-der-einwanderungsgesellschaft/> (28.02.2022).
2 Gwendolin Lübbecke, Die „Cité nationale de l’histoire de l’immigration“ im Palais de la Porte Dorée. Transformationen eines Kolonialpalastes von der „Exposition coloniale“ 1931 bis heute, Stuttgart 2020. Siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 11.06.2021, URL: <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-95852> (28.02.2022).
3 Nur Yasemin Ural, Die Nation erzählen: „Cité nationale de l’histoire de l’immigration“, in: WerkstattGeschichte 70 (2015), S. 103–106, URL: <https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/02/WG70_103-106_URAL_NATION.pdf> (28.02.2022).